Armand Schulthess Die Enzyklopädie im Kastanienwald

Armand Schulthess, der eigentlich Alfred Fernand Armand Dürig hieß, wird am 19. Februar 1901 in Neuenburg geboren. Eine nette Familie adoptiert ihn, die 1910 nach Zürich zieht. Dort macht er eine Lehre in einer Importfirma und ist ab 1919 als Sekretär in verschiedenen Unternehmen tätig. Später besitzt er ein eigenes Damenkonfektionsgeschäft, erst in Zürich und dann in Genf, das er in der Wirtschaftskrise aufgeben muss. Er heiratet zweimal, die Frauen verlassen ihn aber, weil kein Geld da ist. Das einzige Kind stirbt früh.
1939 erhält er eine Anstellung bei der Eidgenössischen Bundesverwaltung im Volkswirtschaftsdepartement, Sektion Ein– und Ausfuhr. Das hört sich nach einem freudlosen Leben an. Nicht? Was macht so ein Mann? Armand Schulthess schafft sich eine eigene Welt, eine überhöhte, wunderbare Welt. Es beginnt mit einer Anzeige in einer Tageszeitung, so berichtete es Daniel Spoerri. Armand annonciert kurz und knapp: Habe 75.00 Franken, suche Haus. Wir schreiben 1942.
Armand Schulthess findet ein Rustico in einem wunderschönen Kastanienwald in Auressio im Kanton Tessin. Er spart fleißig und kauft sich weitere Ländereien dazu. 1951 quittiert er den Bundesdienst: Der Austritt erfolgte auf eigenes Begehren und mit der offen geäußerten Absicht, im Tessin einen vollkommen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Wie wunderbar, Armand ist Fünfzig. Er übersiedelt in seine Drei Besitztümer im schönen Onsernonetal um fortan zu tun, was ihm beliebt. Es entsteht eine Enzyklopädie im Walde, ein Wissenskosmos. Wie das?
Armand sammelt und ordnet. Er beschriftet Tausende von Blechtäfelchen, meist aufgeschnittene Konservendosen, mit seinem Wissen. Wissen in Form von Stichworten, Tabellen, Verweisen. Aus der Physik, Biologie, Chemie, Wirtschaft, Geschichte, Astrologie, Psychologie, Kybernetik, selbst der Mode der Frau, wie er sich ausdrückt. Diese Tafeln hängt er in die Kastanienbäume, zieht sie in zusammenhängen Themen über die Terrassen, füllt nach und nach sein ganzes Grundstück damit. Alles hat System: Mein System ist es, dass ich immer Gleiches zu Gleichem tue, sagt er. Und so ist es, fantastischer kann man die Welt nicht ordnen. Alles, was ich ordne, schreib ich erst mal ab. Neben den Blechtafeln beschriftet er auch Kartonstücke, aber lieber Blechtafeln, mit Ölfarbe und einem Nagel als Schreibgerät. Er legt Wegesysteme und Sitzplätze für seine Bibliothek an. Delikates wie medizinische Fakten über Befruchtung, Schwangerschaft, Klimakterium gehören für ihn aber ins Haus.
Ist es Manie oder Kunst?
Armand Schulthess wird schnell der Geheimtipp unter Künstlern wie Spoerri und Roth. Er wird Everybodys Darling, vor allem bei den Künstlerfrauen. Diese versorgen ihn bisweilen mit den abgelegten Maßanzügen ihrer Männer. Armand, der seltenen Besuch manchmal in langbeinigen Unterhosen zu empfangen pflegt, legt die milden Gaben fein säuberlich im Schrank ab. Ordnung muss sein. Ingeborg Lüscher ist eine der treibenden Kräfte zu seiner Berühmtheit. Harald Szeemann bringt 1972 ein Stück aus dem Kastanienwald auf die Dokumenta V. Es ist die Dokumenta, an der erstmals die Art Brut gezeigt wird. Mich hat diese Präsentation damals enttäuscht, man kann die wunderbare Stimmung eines Kastanienwaldes nicht exportieren, die mittägliche Hitze des Südens, den verspielten Klang von Blech im Wind.
Am 29. September 1972 wird Armand Schulthess tot in seinem Garten aufgefunden, er, der diesen Wissenskosmos unbeirrbar geschaffen hat. Der scheue Künstler, der Passanten auf dem alten Saumweg, der an seinem Grundstück vorbeiführte, mittels Tafeln aufforderte, mit ihm in Kontakt zu treten und sich dann verweigerte. Der Telefonnummern zwecks eines Gesprächs anbot, die ungültig waren.
Kurz nach seinem Tod sind die Erben da und beginnen, diesen wunderbaren Kosmos von 18’000 qm zu entsorgen. Brutal und unwissend dumm. Was bleibt ist ein Buch von Markus Britschgi (Hrsg.), S. Corinna Bille (Text) und Theo Frey (Fotos) mit dem Titel Der verwunschene Garten des Wissens. Dann ein Film von Hans-​Ulrich Schlumpf mit dem Titel Armand Schultheiss, jai le téléphone und seit 1981 ein Raum im Museo Casa Anatta auf dem Monte Verità bei Ascona mit geretteten Stücken aus dem Kastanienwald.
Bilder finden Sie auf der Website. Hier noch ein Link mit drei kleinen Aufsätzen zu Armand: